Das Tor im Wald

 

Ich erwachte aus tiefem Schlaf und wusste zunächst nicht warum. Dann bemerkte ich meine Mutter, die neben meinem Bett stand. »Steh auf, wir müssen los«, raunte sie mir zu.

Erst jetzt bemerkte ich, dass sie komplett angezogen war. »Wohin denn?«, fragte ich, und rieb mir den Schlaf aus den Augen.

»Das siehst du, wenn wir angekommen sind. Und jetzt mach schnell, ich warte unten«, gab sie zur Antwort, bevor sie aus dem Zimmer rauschte.

 

Als ich nach unten kam, staunte ich nicht schlecht. Drei Koffer standen gestapelt im Flur und oben drauf thronte Aljunni, unser Kater, und schnurrte zufrieden.

»Fahren wir in den Urlaub?«, fragte ich.

Meine Mutter lächelte und streichelte mir über den Kopf. Ich mochte das nicht, immerhin war ich jetzt schon zehn Jahre alt, aber ich ließ es über mich ergehen.

»Ich möchte, dass du endlich meine Familie kennenlernst. Darum werden wir an den Ort reisen, an dem ich aufgewachsen bin.«

Ich hörte Schritte hinter mir auf der Treppe und drehte mich um. Mein Vater, noch im Schlafanzug, kam herunter. »Ich verstehe nur nicht, warum wir mitten in der Nacht losmüssen«, brummte er.

Mutter lachte und küsste ihn auf den Mund. »Weil es nur diese eine Möglichkeit gibt. Jetzt geh rauf und zieh dich an, du alter Brummbär. Wir haben nur noch ein paar Minuten, dann müssen wir los, sonst schließt sich das Tor wieder.«

 

Vielleicht sollte ich mich erstmal vorstellen. Mein Name ist Dandelion, aber nur meine Mutter nennt mich so, alle anderen sagen Lion zu mir. Ich bin kurz vor den Sommerferien zehn Jahre alt geworden und bin leider ein Einzelkind. 

Meine Mutter heißt Cattleya, genannt Cat und der Name meines Vaters ist Tom. Er arbeitet als Buchhalter in einer großen Firma. Fragt mich jetzt bitte nicht, was er da macht. Er sagt, er tippt Zahlen in den Computer - tagein, tagaus.

Meine Mutter arbeitet nicht, sie ist immer im Garten mit ihren Heilkräutern und Pflanzen beschäftigt. Oft kommen Leute zu ihr, denen die Medizin nicht helfen konnte. Ihnen braut Mutter dann einen Tee oder mixt eine Salbe aus ihren Kräutern.

 

Endlich war mein Vater fertig angezogen. Wir nahmen die Koffer und verließen das Haus, gingen jedoch nicht zum Auto. Zu meiner größten Verwunderung liefen wir daran vorbei, ums Haus herum. Am Gartenschuppen ließ meine Mutter uns noch einmal anhalten. Sie ging hinein und kam kurz darauf mit einer entzündeten Petroleumlampe wieder heraus. »So, jetzt kann es losgehen«, sagte sie und führte uns in den Wald, der an unser Grundstück grenzte. 

Nach wenigen Minuten kamen wir zu der Lichtung, auf der ich sonst oft mit meinen Freunden spielte. Noch nie war ich mitten in der Nacht bei Vollmond hier gewesen.

Die Dunkelheit zwischen den dichten Tannen und die unwirkliche Stille hatten etwas Bedrohliches, nur das Klingeln von Aljunnis Glöckchen, welches er um den Hals trug, war zu hören. 

Meine Mutter ging unbeirrt weiter, quer über die Lichtung, auf zwei hohe Linden zu, die dicht nebeneinanderstanden. Der Raum zwischen den Linden sah irgendwie aus, wie ein Tor.

Ich blinzelte verwirrt und rieb mir die Augen. »Da ... da ist ja wirklich ein Tor«, stammelte ich. 

Meine Mutter drehte sich zu mir um. »Du kannst es sehen?«, fragte sie erfreut.

»Er kann was sehen? Ich sehe gar nichts«, schnaufte mein Vater hinter uns. Wir waren stehen geblieben und er ließ die schweren Koffer, die er schleppte, zu Boden fallen.

Meine Mutter trat zu meinem Vater und nahm seine Hand. »Schau«, sagte sie und deutete mit der anderen zwischen die Linden.

Die Augen meines Vaters weiteten sich. »Und du kannst es ohne Hilfe sehen?«, fragte er mich.

Ich nickte und starrte weiter auf das zweiflügelige Eisentor, das zwischen den Bäumen stand. Es war übermannshoch und von oben bis unten mit Blumen berankt. Die Blüten leuchteten in den unglaublichsten Farben.

Ich schaute genauer hin. »Die Blumen leuchten ja wirklich«, dachte ich mit großem Erstaunen.

»Was ist das?«, wollte ich fragen, als ich bemerkte, dass das Tor sich langsam zu öffnen begann.

»Kommt, wir haben nicht viel Zeit«, sagte meine Mutter, nahm Aljunni auf den Arm und ging Richtung Tor.

Mein Vater und ich warfen uns einen kurzen Blick zu. Er zuckte mit den Schultern und lächelte schief. »Du hast die Lady gehört«, meinte er grinsend.

Wir nahmen das Gepäck und folgten ihr.

 

 

2. Das Mittsommerfest

 

Direkt vor dem Tor blieb meine Mutter stehen. »Wir müssen warten, bis es sich komplett geöffnet hat«, flüsterte sie.

»Stell die Koffer hin und gib mir deine Hand, Tom«, sagte sie dann, an meinen Vater gewandt.

»Aber, das Gepäck ...«

»Keine Sorge, ich kümmere mich darum.« Sie bückte sich und setzte Aljunni auf den Boden. »Du kennst die Regeln, alter Freund«, sagte sie streng zu dem Kater, und nahm ihm das Glöckchen ab.

Der maunzte und strich um ihre Beine.

 

Dann hatte sich das Tor vollständig geöffnet. Hand in Hand traten wir drei hindurch. Von der Stille des Waldes mitten hinein in den Trubel eines Festes.

Mit offenem Mund bestaunte ich das bunte Treiben. Noch nie zuvor hatte ich so ein Fest gesehen. Ein riesiges Freudenfeuer war entzündet worden und drum herum tanzten Menschen in den wunderlichsten Verkleidungen. Es gab Zwerge, Feen, Hexen, Zauberer und noch vieles mehr.

»Cat! Da bist du ja endlich!«, dröhnte eine laute Stimme über den Platz und ein Mann im Zaubererkostüm lief auf uns zu. 

Meine Mutter strahlte und warf sich in seine Arme. »Lavender! Ich hab dich so sehr vermisst!«, rief sie.

Er drückte sie lächelnd an sich. »Und ich dich erst, Schwesterherz!«, sagte er. »Wo hast du denn Al gelassen?«

»Ich bin hier!«, hörte ich eine tiefe Stimme hinter uns. Erschrocken fuhr ich herum. Dort wo eben noch Aljunni gesessen und sich die Pfoten geleckt hatte, stand jetzt ein dunkelhaariger, schwarz gekleideter Mann. 

Er fing meinen verwirrten Blick auf und grinste. »Einst war ich ein böser Dschinn, doch dein Onkel besiegte mich in einem Zaubererduell und nun bin ich ihm, bis zum Ende der Zeit, zum Dienst verpflichtet. Meine Aufgabe ist es, seine Schwester zu beschützen«, erklärte er mir.

»Es war deine Aufgabe. Danke, dass du sie so gewissenhaft ausgeführt hast, Aljunni. Du bist jetzt frei und kannst gehen, wohin du magst, mein Freund«, mischte sich Lavender ein.

»Ich denke, dann werde ich meine Freiheit nutzen und ein wenig im Reich herumstreunen. Bis bald, großer Zauberer«, grinste Aljunni, umarmte erst Lavender und dann meine Mutter, bevor er in der Menschenmenge untertauchte.

»Wie? Was? Zauberer?«, murmelte ich und schaute ihm verwirrt nach.

»Ich werde dir später alles erklären. Lass uns erst das Mittsommerfest feiern«, sagte meine Mutter leise zu mir.

»Das klingt nach einem Plan!«, freute sich Lavender und zog Mutter Richtung Tanzfläche. 

Plötzlich stand ein Junge, etwa in meinem Alter, neben mir. Wir waren fast gleich groß und seine Augen waren genau so grün wie meine. Doch während mein Haar braun und strubbelig ist, wie das meines Vaters, hatte er kastanienbraune Locken, so wie meine Mutter und sein Gesicht war übersäht mit Sommersprossen. Er grinste mich an. »Hast du Lust, dich umzusehen?«, fragte er.

Unsicher schaute ich zu meiner Mutter. »Geh nur mit deinem Cousin, Junge!«, rief sie mir über ihre Schulter zu. 

»Du bist mein Cousin?«, fragte ich erstaunt, bisher hatte ich nicht gewusst, dass ich einen hatte.

Er lachte und zuckte mit den Schultern, sein Gesicht sah dem von Lavender sehr ähnlich. »Mein Name ist Coriander, aber alle nennen mich Corian.«

»Ich bin Lion«, erwiderte ich.

»Komm mit Lion. Lass uns dort hinten einen Rahmfladen essen.«

 

»Die sind lecker, oder?«, fragte er, als wir etwas später kauend auf einer der Bänke saßen.

»Ja, erinnert mich ein wenig an Pizza«, meinte ich.

»Pizza? Was ist denn das für ein Zeug?«, fragte Coriander lachend.

»Du kennst keine Pizza?«, rief ich verwundert.

Doch Corian ging nicht darauf ein. »Hey! Willst du mal meinen Drachen sehen?«

»Ja klar!«, rief ich und dachte an den Drachen, den ich im letzten Herbst zusammen mit meinem Vater gebastelt hatte.

Corian war bereits aufgestanden. »Dann komm!«, rief er mir zu.

 

Ich folgte ihm zu einem riesigen Zelt am Rande des Festplatzes. Lautes Brüllen und Fauchen war zu vernehmen.

Corian schlug eine Plane zurück und wir traten ein. Im halbdunkeln konnte ich ungefähr zehn Drachen in verschiedenen Größen erkennen. Ich schüttelte meinen Kopf, rieb mir die Augen und schaute erneut. Tatsächlich, da waren Drachen, wie ich sie aus meinen Büchern kannte.

Ich konnte gar nicht fassen, was ich sah, aber für Corian war es offenbar etwas ganz Normales. Er ging zu einem der Gehege und trat ein. Langsam folgte ich ihm, unsicher, ob ich auch zu dem Drachen gehen sollte, oder nicht. 

»Das ist Fred. Er ist ein Feendrache. Die sind total selten. Vater schenkte ihn mir als Ei«, erklärte er und streichelte das seltsame Tier.

Es sah aus, wie man sich einen Drachen vorstellt, doch seine Schuppen waren dunkelblau und er hatte riesige Libellenflügel.

»Beim Wettfliegen heute Nachmittag haben wir den dritten Platz belegt. Aber nur, weil auch zwei Winddrachen dabei waren, gegen die hatten wir einfach keine Chance.«

»Feendrache ... Winddrache ... ich versteh nur Bahnhof!«, murmelte ich verwirrt und traute mich kaum zu Atmen, aus Angst, der Drache, der gerade interessiert an mir schnupperte, könnte mich fressen.

»Du brauchst vor Fred keine Angst haben, er ist ein Pflanzenfresser«, kicherte Corian. »Gibt es dort, wo du herkommst keine Drachen?«

»Nur in Märchen oder Sagen«, meinte ich.

»Bei uns gibt es ganz verschiedene Arten. Zum Beispiel Bergdrachen, Feuerdrachen, Winddrachen, Himmelsdrachen, da hinten sind noch ein Hornschwanz und ein Rotschuppen. Es gibt noch weitere Drachenarten, aber nicht hier bei uns im Tal. Alle Drachen, die du hier siehst, sind jung. Ausgewachsene dürfen nur von ausgebildeten Drachenreitern geflogen werden. Die haben ihr eigenes Lager dort hinter dem Wäldchen. Ich träume davon, irgendwann mal ein ...«

Er wurde von Fanfarenklängen unterbrochen. »Komm schnell, die Flugshow beginnt, das ist das Beste am ganzen Fest!«, rief Corian, verschloss das Drachengehege und rannte aus dem Zelt. 

 

Um mich herum war es so still geworden, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Alle schauten gebannt an den Himmel und warteten.

Dann tauchten sechs ausgewachsene Drachen im Formationsflug auf. Gegen diese Drachen waren die, die ich im Zelt gesehen hatte winzig klein gewesen. 

Mit offenem Mund verfolgte ich die Flugshow. Die Kunststücke, die von den Drachen und ihren Reitern am Himmel gezeigt wurden, waren atemberaubend. 

 

Viel zu schnell war die Show vorbei und die Drachen landeten unter großem Applaus des Publikums auf einem angrenzenden Feld. Die Musik setzte wieder ein und das Fest ging weiter.

Überfordert von den ganzen Eindrücken, ließ ich mich auf eine der Bänke fallen. »Klar! Es ist nur ein Traum!«, dachte ich. »Alles was ich tun muss, ist aufwachen!«

Ich kniff mich in den Arm, es tat weh, aber ich erwachte nicht. 

Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich fuhr herum. Hinter mir standen meine Eltern. »Komm mit, ich werde dir alles erklären«, sagte meine Mutter lächelnd.

Ich hatte sie noch nie zuvor so glücklich gesehen, wie in diesem Moment. Ich nahm ihre Hand und ließ mich von ihr durch das Gedränge führen.

Wir gingen quer über den Platz, vorbei an den verschiedenen Garküchen und Kramerständen zu einer Wiese, auf der viele kleine Laubhütten standen.

Wir betraten eine dieser Hütten. Verwirrt schaute ich mich um, im Inneren war sie deutlich größer als von außen und hatte auch nichts mit einer Laubhütte zu tun. Es war ein gemütlich eingerichteter Raum. Auf dem Boden lagen Teppiche, es gab Betten und vor einem kleinen Kamin standen ein paar Sessel.

Meine Mutter zog einen Stock aus ihrer Tasche. Sie murmelte etwas und vollführte eine Bewegung. Licht flammte auf und im Kamin flackerte plötzlich ein Feuer.

»Du bist eine Hexe«, stammelte ich verwirrt. 

Sie lachte. »Ja, stimmt! Setz dich doch. Ich werde dir alles erklären. Möchtest du einen Kakao?«

Ich nickte und ließ mich auf einem der Sessel nieder. Meine Mutter reichte mir eine dampfende Tasse Kakao, sogar ein paar Marshmallows schwammen darin. »So magst du ihn am liebsten, oder?«, fragte sie lächelnd und setzte sich neben mich.

»Das Land, in dem wir uns hier befinden, ist das magische Reich Botanien. Es ist ein Zufluchtsort für alle magischen Wesen. Früher lebten Menschen und magische Wesen einträchtig zusammen, doch irgendwann verlor die Menschheit den Glauben an die Magie. Aus diesem Grund versiegelte der Orden der weißen Zauberer dieses Reich, so dass kein Mensch es jemals finden kann. Es gibt nur noch wenige Tore zur realen Welt.«

Mir schwirrte der Kopf.

»Ich weiß, es ist viel, Dandelion.« Sie reichte mir ein Buch und schlug es auf. »Hier, schau es dir einfach an, es ist so vielleicht alles besser zu verstehen.« 

Ich beugte mich über das Buch und schaute mir das Bild an, welches sie aufgeschlagen hatte. Es zeigte meine Mutter als junges Mädchen, gemeinsam mit einer Freundin.

Sie tippte mit ihrem Zauberstab auf das Bild und plötzlich fingen die Personen an, sich zu bewegen.


Besuch in der Nacht

 

Durch ein Poltern wurde ich geweckt und fuhr im Bett hoch. Suchend schaute ich mich um. Mondlicht erhellte den Raum und malte seltsame Schatten an die Wände. Mein Cousin Coriander schnarchte leise in seinem Bett auf der anderen Seite des Zimmers. 

Ich konnte nicht entdecken, was das Geräusch verursacht haben könnte. 

»Es war wohl doch ein Traum«, überlegte ich und ließ mich zurück ins Kissen fallen.

Meine Gedanken schweiften ab, zu den Bildern des vergangenen Tages, meinem elften Geburtstag. Zum ersten Mal hatte ich nicht Zuhause, sondern hier im Internat gefeiert. Tolle Geschenke hatte ich bekommen, hauptsächlich Bücher, denn ich lese für mein Leben gern.

 

Falls ihr mich noch nicht kennt, möchte ich mich euch kurz vorstellen. Mein Name ist Dandelion, und ich bin ein Zauberer. Na ja, genau genommen möchte ich einer werden. Zur Zeit besuche ich nämlich die Merlin-Gedächtnis-Schule, die beste Schule für Hexerei und Zauberei, die es in ganz Botanien gibt. 

Botanien ist übrigens ein Land, in dem all die magischen Wesen leben, die ihr wahrscheinlich nur aus Büchern kennt. Ich selbst weiß erst seit knapp einem Jahr, dass es dieses Land überhaupt gibt. Damals war ich noch ein ganz normales Kind, so wie ihr auch. Dann ging ich mit meinen Eltern in der Mittsommernacht durch ein magisches Tor, welches die Welt der Menschen mit der Welt der Zauberer verbindet. 

Meine Mutter ist eine Hexe, die in Botanien geboren und aufgewachsen ist. Sie verliebte sich als junges Mädchen in einen Menschen, meinen Vater, und lebte dann für viele Jahre in seiner Welt.

In der letzten Mittsommernacht haben wir dann gemeinsam beschlossen, in Botanien zu bleiben, damit ich eine Zaubererschule besuchen kann. Hab ich eigentlich schon erwähnt, dass das Schulgebäude ein gigantischer Baum ist? Nein? Dann hört zu, im Stamm des riesigen Baumes befinden sich der Festsaal, eine Bibliothek und natürlich die Empfangshalle und das große Treppenhaus. In den Ästen sind die Schlafräume und Klassenzimmer untergebracht.

 

Gähnend warf ich einen Blick auf den Wecker. »Schon halb drei! Nur gut, dass bald die Sommerferien beginnen, und schon alle Prüfungen geschrieben sind.« 

Ich stieg aus dem Bett und ging zum geöffneten Fenster. Auf dem Boden entdeckte ich eine Vase, die vorher auf dem Fensterbrett gestanden hatte. »Der Wind muss sie hinunter geweht haben«, murmelte ich, hob sie auf und stellte sie zurück an ihren Platz. Für einen Moment blieb ich am Fenster stehen und schaute in die Nacht hinaus. 

»Warum schläfst du nicht?«, piepste es plötzlich dicht an meinem Ohr.

Erschrocken drehte ich mich in die Richtung und entdeckte ein winziges Wesen auf einem Ast neben dem Fenster.

»Die Vase ist runtergefallen, davon wurde ich geweckt. Wer bist du?«, fragte ich das Wesen.

»Ich bin Willow, eine Baumfee.«

»Freut mich, mein Name ist Lion.«

»Ich weiß, wer du bist. Du bist der Junge, der Merlin im letzten Jahr befreit hat!«, erwiderte Willow und kam neugierig näher.

»Woher weißt du das? Es sollte doch geheim bleiben«, fragte ich.

»Hab es wohl mal aufgeschnappt, als ich oben im Baum unterwegs war«, meinte Willow ausweichend. Sie ließ sich auf der Fensterbank nieder und ließ die Beine baumeln. »Erzählst du mir von deinem Abenteuer?«, wisperte sie neugierig.

»Na gut, aber du darfst niemandem davon erzählen. Ich habe ein Versprechen gegeben, nicht darüber zu reden«, gab ich nach und berichtete, wie Corian und ich den großen Zauberer Merlin aus der Gefangenschaft der Trolle retteten.

»Ich würde auch so gern mal ein Abenteuer erleben«, seufzte Willow, nachdem ich geendet hatte. 

Ich musste unwillkürlich grinsen, bei der Vorstellung, die Baumfee hätte uns bei unserem Ausflug ins Feuergebirge begleitet. Sie war so winzig, kaum größer als mein Daumen. Ihre Feenflügel schimmerten im Mondlicht und sie trug ein Kleid, das aus Blättern gemacht zu sein schien.

»Glaubst du, ich könnte es nicht, nur weil ich so klein bin!«, schimpfte sie empört. Sie war aufgesprungen und hatte ihre Fäuste in die Hüften gestemmt. Wütend funkelte sie mich an, dann stieß sie sich vom Fensterbrett ab und flog davon.

»Es tut mir leid! Ich wollte dich nicht ärgern!«, rief ich ihr nach, doch sie hörte mich nicht, oder wollte mich nicht hören.

Ich schloss das Fenster und legte mich zurück ins Bett. Bald darauf war ich wieder eingeschlafen.

 

 

Drachenmist und Schokotorte

 

Fassungslos starrte ich mein Spiegelbild an. Immer wieder wuschelte ich durch meine, ohnehin schon wild vom Kopf abstehenden, braunen Haare. 

»Da stimmt doch was nicht! Hast du mir heute Nacht eine Haarsträhne abgeschnitten?«, rief ich Corian zu.

Der schaute mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Spinnst du? Warum sollte ich so was tun?«, fragte er zurück.

»Ich weiß nicht, aber schau doch! Hier ist ein richtiges Loch drin!« Aufgeregt deutete ich auf eine Stelle an meinem Kopf.

»Quatsch! Deine Haare sind wuschelig wie immer. Komm jetzt, wir sind schon spät dran.«

 

Müde und unausgeschlafen schlurfte ich neben ihm her zum Drachenstall. 

»Stalldienst ist doch viel besser, als Klassenräume putzen, oder?«, meinte er fröhlich.

»Genau, ich kann mir heute Morgen nichts Schöneres vorstellen, als Drachenmist zu schaufeln!«, grummelte ich, schlecht gelaunt.

»Welche Laus ist dir eigentlich über die Leber gelaufen?«, fragte er.

»Hallo? Schon vergessen?«, rief ich und deutete mit der Hand auf meine Frisur.

Corian lachte. »Du bildest dir da wirklich etwas ein, Lion. Da ist nichts zu sehen.«

»Wusstest du eigentlich, dass im Schulbaum Baumfeen wohnen?«, lenkte ich ab.

»Baumfeen wohnen in fast allen Bäumen, Lion. Sie sorgen dafür, dass es den Bäumen gut geht«, belehrte mich Corian und schob das schwere Tor zum Drachenstall auf.

»Besserwisser«, grummelte ich und folgte ihm in den Stall. Mein erster Weg führte mich zu meinem Schattendrachen Silvan.

 

Ein Schattendrachen sieht vom Körperbau aus, wie man sich einen Drachen vorstellt, nur hat er Flügel, wie eine Fledermaus und seine Schuppen sind nicht grün, sondern tiefschwarz. Im Sonnenlicht schimmern sie leicht silberfarben, darum gab ich ihm diesen Namen.

»Guten Morgen mein Großer«, begrüßte ich ihn und streichelte seinen riesigen Kopf. Er schnaubte mir ein paar Rauchkringel entgegen.

In diesem Moment trat Pinius, der Drachenpfleger, hinter uns. »Morgen Jungs! Schön, dass ihr beide euch freiwillig zum Helfen gemeldet habt. Wir werden jetzt die Drachen nach draußen ins Freigehege treiben, dann können wir hier gründlich ausmisten.«

»Juhu!«, sagte ich sarkastisch. Doch niemand achtete auf mich.

 

»So, kommt her Jungs. Ich zeige euch den richtigen Spruch zum Ausmisten!«, rief Pinius, nachdem alle Drachen den Stall verlassen hatten.

Er murmelte einen Zauberspruch, machte eine kreisende Bewegung und der Drachenmist aus der ersten Box flog an uns vorbei zum Misthaufen.

 

So einfach hatte ich mir den Job gar nicht vorgestellt. Corian und ich machten uns bald einen Spaß daraus, den Mist möglichst kunstvoll auf den Misthaufen fliegen zu lassen. Immer übermütiger wurden wir mit den Schwüngen unserer Zauberstäbe. 

»Huch! Was war denn das? Da ist mir doch mein schöner Hut in den Mist geflogen!« Hörten wir plötzlich eine Stimme.

Erschrocken drehten wir uns um und entdeckten Merlin, der in diesem Moment den Drachenstall betrat. 

Seit Corian und ich ihn befreit hatten, war er wieder der Oberste des Ordens der weißen Zauberer. Dieser Orden ist sozusagen die Regierung Botaniens.

Das Erste was Merlin änderte, sobald er zurück im Rat war, war das Drachenhaltergesetz. Bisher durften Drachen nur in Drachenschulen, sowas wie Reitschulen, oder im Schulstall der MGS untergebracht werden. In Zukunft sollte es auch Privatpersonen erlaubt sein, einen Drachen zu halten, darum würden unsere Drachen bald in einem Stall bei uns Zuhause wohnen. 

 

Merlin entdeckte uns und winkte uns zu sich. »Hier steckt ihr beiden, ich habe euch gesucht!«

»Uns? Haben wir etwas angestellt?«, fragte Corian vorsichtig.

Einen Moment blickte der alte Zauberer uns mit seinen eisblauen Augen durchdringend an, dann lachte er. »Wenn, dann weiß ich davon nichts. Ich meine, ihr werdet mich ja schließlich nicht absichtlich mit Drachenmist beworfen haben, oder?«

Corian schaute unbehaglich drein, doch ich setzte schnell eine Unschuldsmiene auf. »Nein, natürlich nicht. Wir haben Pinius nur beim Ausmisten geholfen«, beeilte ich mich, zu erklären.

»Warum haben Sie uns denn gesucht?«, wollte Corian wissen.

»Nun, ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass gestern dein Geburtstag war, Dandelion.« Er machte eine Pause und zog seinen Zauberstab hervor. Leise murmelte er ein paar Worte und plötzlich hielt er eine kleine Schokoladentorte, die mit einem Drachen aus Marzipan verziert war, in der Hand. Er überreichte sie mir mit einem breiten Lächeln. »Herzlichen Glückwunsch, Dandelion.«

»Vielen Dank. Nur, um mir zu gratulieren, sind Sie heute zur Schule gekommen?«, fragte ich erstaunt.

Merlin lachte dröhnend. »Nicht nur, ich hab noch was mit meinem alten Freund Sorbus zu besprechen. Außerdem möchte ich die Abschlussfeier und das Festessen nicht versäumen.« 

Er nahm mir die Torte ab. »Ich werde sie in dein Zimmer bringen. Wir sehen uns später noch, Jungs! Lasst euch die Torte schmecken, aber verderbt euch nicht den Appetit fürs Abendessen!«

Er zwinkerte Corian und mir noch einmal verschwörerisch zu, bevor er den Stall wieder verließ.

 

Als es Zeit zum Mittagessen war, hatten wir unsere Aufgabe erledigt. In sämtlichen Boxen war nur noch der blitzsaubere Specksteinboden zu sehen, den die Drachen so sehr liebten.

Corian und ich beeilten uns, in unser Zimmer zu kommen. Ohne das Mittagessen zu beachten, machten wir uns über die köstliche Schokoladentorte her.

 

»Puh! Ich werde mich nie wieder bewegen können. Heute Nachmittag liegt doch hoffentlich nichts mehr an, oder?«, stöhnte Corian und rieb sich den vollen Bauch.

»Na ja, wir müssen noch unsere Koffer packen, ansonsten haben wir bis heute Abend Freizeit«, erwiderte ich.

»Wie von der Tarantel gestochen sprang Corian wieder von seinem Bett auf. »Wir haben frei? Warum sagst du das nicht gleich? Beeilen wir uns mit dem Kofferpacken, dann können wir noch eine Runde auf unseren Drachen drehen!«

 

Nicht viel später waren wir schon wieder auf dem Weg zum Drachenstall. Unterwegs holten wir unsere Drachen aus dem Freigehege.

Corian war stolzer Besitzer eines sehr seltenen Feendrachen. Er hieß Fred und war ungefähr so groß, wie Silvan. Nur waren seine Schuppen blau und er hatte wunderschön glitzernde, riesige Libellenflügel.

Wir machten uns nicht die Mühe, Fred und Silvan zu satteln und stiegen sofort auf. Nur Augenblicke später jagten wir schon in abenteuerlichen Manövern über das Flugfeld. 

 

Wie immer verging die Zeit viel zu schnell und bald mussten wir uns auf den Weg zurück ins Haus machen, um uns für die Abschlussfeier am Abend umzuziehen.

In letzter Minute schlüpften wir in den festlich geschmückten Saal. Corians ältere Schwester Ivy hatte uns Plätze an ihrem Tisch freigehalten.


1.  Mieses Wetter und Sommer im Bauch

 

Ich stand am Fenster und starrte hinaus. »Hört es eigentlich nie mehr auf zu Regnen?«, maulte ich und drehte mich zu meinem Cousin Coriander um, der auf seinem Bett lag und in einem Comic las.

 

Jetzt hob er den Kopf und schaute mich an. »Was?«, fragte er.

 

»Seit Tagen heult dieser blöde Sturm und wir können nicht raus! Nicht mal fliegen können wir! Es ist Wochenende und wir sitzen hier in der Schule fest! Findest du das nicht nervig?«

 

»Na hör mal, so schlimm ist es jetzt auch nicht!«, lachte er. »Außerdem kannst du immer noch mit dem Greifenexpress nach Hause fliegen, wenn du das möchtest.«

 

Ich stellte mir vor wie ich bei diesem Wetter am Bahnhof des Greifenexpress stand, einer Plattform im Wipfel eines hohen Baumes. Eisiger Regen prasselt auf mich ein und der Bahnhof schaukelt im starken Wind. Endlich erscheint die Fahrkabine am Rand der Plattform. Wie jedes Mal erinnert sie mich an die Gondel eines Riesenrads. Nachdem ich Platz genommen habe, stürzt ein Greif aus dem wolkenverhangenen Himmel hinab. Ein majestätisches Wesen, das eine Mischung aus Adler und Löwe ist. Es schnappt sich die Gondel und trägt mich nach Hause. Dabei werde ich vom Wind ordentlich durchgeschüttelt.

 

Schon allein bei der Vorstellung wird mir übel und ich schüttele mich. »Kannst du vergessen. Bei so einem Wetter steige ich doch nicht in den Greifenexpress«, grummelte ich.

 

»Dann bleib halt hier und ertrage es wie ein Mann«, grinste Corian.

 

Ich sagte nichts und warf ihm nur einen wütenden Blick zu.

 

Er erhob sich und kam zu mir ans Fenster. »Auch hier in Botanien gibt es schlechtes Wetter. Es kommt selten vor und hält meistens nicht lange an aber das gibt es!«, erklärte er.

 

»Es hält nicht lange an? Es sind jetzt schon vier Tage und es ist keine Besserung in Sicht!«

 

»Ich glaube, du brauchst einen Herzenswärmer«, meinte er nachdenklich. Er trat an seinen Schreibtisch, zog die Schublade auf und holte eine kleine Schachtel heraus. 

 

»Hier probier einen. Danach geht es dir besser«, meinte er und hielt mir die Schachtel hin.

 

Ich beäugte die Schokokugeln misstrauisch, dann nahm ich eine und steckte sie in den Mund. Die dunkle Schokolade schmolz und es floss eine Creme heraus. Sie schmeckte nach Zitronen und Lavendel. Ein Gefühl von Sommer und Wärme breitete sich in mir aus und meine Laune wurde sofort besser.

 

»Wow! Was sind das für Dinger?«, fragte ich.

 

Corian grinste. »Meine Oma stellt sie her. Die Zitronencreme darin wird nach einem ganz alten Familienrezept angerührt. Es gibt nichts Besseres gegen schlechte Laune«, meinte er.

 

»Das stimmt«, stellte ich fest und ließ mich in einen der Sessel vor dem Kamin sinken. Für einen Moment schloss ich die Augen. 

 

Die Herbstferien waren erst zwei Wochen vorbei und seit dem war ich noch nicht wieder Zuhause gewesen. Ich hätte es auch unter Folter nicht zugegeben aber bis eben hatte ich großes Heimweh gehabt. Jetzt war es allerdings wie weggeblasen.

 

Hab ich mich eigentlich schon vorgestellt? Nein noch nicht? Dann werde ich das schnell nachholen. Mein Name ist Dandelion. Ich bin jetzt in meinem zweiten Jahr an der Merlin-Gedächtnis-Schule. Die MGS, wie sie von den Schülern nur genannt wird, ist übrigens die beste Schule für Hexerei und Zauberei, die es in ganz Botanien gibt. 

 

Ihr kennt Botanien nicht? Nun, Botanien ist das Land in dem all die magischen Wesen leben, die ihr wahrscheinlich nur aus euren Büchern kennt. Hier gibt es Zwerge, Feen, Elfen, Hexen, Zauberer, Drachen und noch vieles mehr. Auch ich habe diesen Ort erst vor etwas über einem Jahr kennengelernt, als ich mit meinen Eltern in der Mittsommernacht durch ein magisches Portal ging. Vorher war ich ein ganz normaler Junge mit ganz normalen Problemen.

 

 

Ich erhob mich aus dem Sessel. »Ich gehe in den Stall, kommst du mit?«

 

Corian hatte es sich bereits wieder mit seinem Comic gemütlich gemacht. »Nein geh ohne mich. Ich will das hier noch zu Ende lesen. Bleib aber nicht zu lange. Du weißt doch, heute ist eine große Versammlung.«

 

»Hab es nicht vergessen«, brummte ich und lief los.

 

Ich verließ unseren Ast und eilte die lange Treppe hinunter. Das Treppenhaus lag wie ausgestorben da. Niemand ging bei diesem Wetter freiwillig nach draußen. 

 

Hab ich schon erwähnt, dass das Schulgebäude ein gigantischer Baum ist? Nein? Dann hört zu, im Stamm des riesigen Baumes befinden sich der Festsaal, eine Bibliothek und natürlich die Empfangshalle sowie das große Treppenhaus. In den Ästen sind auf der linken Seite die Schlaf- und Aufenthaltsräume und auf der rechten Seite die Klassenzimmer untergebracht. Jeder Jahrgang hat eigene Äste.

 

 

 

2.  Stimmen im Wind

 

Sobald ich das schwere Eingangstor öffnete, schlug der Wind mir eisigen Regen ins Gesicht.

 

»Ich hätte einen Schirm mitnehmen sollen«, dachte ich und musste im nächsten Moment laut lachen. »Bin ich ein Zauberer oder nicht?«

 

Schnell hexte ich mir einen unsichtbaren Schutzschild, der den Regen abhielt. Trotzdem war ich froh, als endlich die Tür zum Drachenstall hinter mir ins Schloss fiel. Das unheimliche Heulen des Windes war hier nicht mehr zu hören.

 

Im Stall war es warm und gemütlich. Die meisten Drachen dösten friedlich in ihren Boxen. Nur die vier jungen Sonnendrachen, die erst im Sommer geschlüpft waren, tobten laut in ihrem Gehege und spielten Fangen. Einen Moment schaute ich den Kleinen zu. Sie waren jetzt ungefähr so groß wie ein Shetland Pony und ihre Schuppen waren noch von blassgelber Farbe. In zwei oder drei Jahren würden sie jedoch gigantische Drachen mit strahlend gelben Schuppen sein.

 

 

Ich wandte mich von den Sonnendrachen ab und stattete noch schnell Corians wunderschönem Feendrachen mit den dunkelblauen Schuppen und schillernden Libellenflügeln einen Besuch ab. »Hallo Fred! Alles klar?«, fragte ich und warf ihm ein paar Drachenleckerchen zu. 

 

Dann ging ich zu meinem Schattendrachen Silvan. Er sieht übrigens genau so aus, wie man Drachen aus Büchern kennt. Nur hat er riesige Fledermausflügel und seine Schuppen sind schwarz. Im Sonnenlicht glitzern sie allerdings silberfarben, darum gab ich ihm seinen Namen.

 

»Na mein Großer«, begrüßte ich ihn.

 

Silvan hob den Kopf und schaute mich an, dann ließ er ein mächtiges Gähnen ertönen und rollte sich wieder auf dem Specksteinboden zusammen.

 

»Ja ich weiß, es ist langweilig. Aber es ist ein furchtbares Wetter draußen da können wir nicht fliegen«, murmelte ich und kraulte seinen gigantischen Schädel. Silvan grunzte zufrieden und stieß ein paar Rauchkringel hervor.

 

»Ich weiß was dich aufheitern wird«, sagte ich und holte den Putzkasten vom Regal. Dann nahm ich eine Drahtbürste und begann die Schuppen meines Drachen zu bearbeiten. Silvan liebte es, wenn ich das tat und ich vergaß darüber wie immer die Zeit.

 

 

Ein lautes Krachen holte mich aus meinen Tagträumen. Erschrocken bemerkte ich, dass es bereits zu Dämmern begonnen hatte. 

 

»Oh nein! Die Versammlung beginnt in fünf Minuten!«, stellte ich nach einem Blick auf die Uhr fest. Schnell räumte ich das Putzzeug weg. 

 

 

Als ich einige Minuten später den Stall verließ, entdeckte ich den Grund für den lauten Krach. Einer der alten Bäume, die das Schulgelände in einiger Entfernung begrenzten, war umgestürzt. »Hoffentlich wohnten dort keine Baumfeen«, dachte ich und rannte so schnell ich konnte zurück ins Schulgebäude.

 

 

Corian blickte erschrocken auf als ich wie ein Verrückter ins Zimmer stürmte. »Hättest dich gar nicht so beeilen müssen. Eben kam die Durchsage, dass die Versammlung wegen des schlechten Wetters verschoben ist«, murmelte er.

 

»Warum das denn?«, wunderte ich mich.

 

»Weil Merlin nicht kommen konnte. Den genauen Grund kenne ich aber auch nicht«, brummte er und vertiefte sich wieder in einen seiner geliebten Comics.


Kapitel 1

 

Ich blieb stehen und drehte mich im Kreis. Egal, in welche Richtung ich schaute, der Wald wollte einfach kein Ende nehmen.

Durch und durch ein Stadtkind besaß ich keine Erfahrung mit der Natur. Ich hatte Angst, fühlte mich hilflos und ich hasste dieses Gefühl. Bei jedem Geräusch zuckte ich zusammen. Meine Kleidung war zerrissen, ich war schmutzig, von Moskitos zerstochen und meine Knie waren aufgeschlagen, weil ich ständig an Ästen hängenblieb oder über Wurzeln stolperte. Fast schien es, als hätte sich die Wildnis gegen mich verschworen.

 

Seufzend ließ ich mich auf einem Baumstumpf am Wegrand nieder. »Wie lange laufe ich jetzt schon durch diesen verdammten Wald?«, fragte ich mich. Ich wusste es nicht genau, waren es drei oder schon vier Tage. Das letzte Haus hatte ich vor Ewigkeiten gesehen und die asphaltierte Straße war längst einem schmalen Trampelpfad gewichen.

»Ich muss irgendwo falsch abgebogen sein«, überlegte ich. »Wenn es doch wenigstens aufhören würde, zu regnen.« Ich war nass bis auf die Knochen und fror erbärmlich, aber noch schlimmer als die Kälte war der Hunger.

Als ich den Kopf hob und mich umschaute, entdeckte ich ein paar Meter neben mir einen Brombeerstrauch. Schnell lief ich hin und begann die Beeren in mich hineinzustopfen. In meiner Gier ritzte ich mir an den Stacheln des Busches die Haut auf.

Mir wurde schwummerig, als ich die Blutstropfen auf meiner Haut entdeckte und setzte mich wieder auf den Baumstumpf. In diesem Augenblick fielen mir die merkwürdigen Träume der letzten Nächte ein und ich musste kichern.

Seit ich die Zivilisation verlassen hatte, träumte ich jede Nacht denselben Traum:

Eine körperlose Stimme rief immer wieder: »Destiny! Destiny, komm nach Hause! Du bist auf dem richtigen Weg, meine Kleine! Komm Heim!«

Ich folgte dieser Stimme bis ich eine Lichtung erreichte. Dort stand ein junger Mann, dessen Gesicht ich leider nicht erkennen konnte.

»Endlich hast du nach Hause gefunden, Destiny!«, rief er mir zu, und breitete die Arme aus, um mich zu umarmen.

»Aber, mein Name ist nicht Destiny«, erwiderte ich, doch der Mann achtete nicht darauf.

Er schaute sich gehetzt um, dann rief er: »Lauf! Lauf um dein Leben! Sie sind gekommen, um alle Vampire zu vernichten!« ...

An dieser Stelle erwachte ich immer schweißgebadet. »Ich bin ein Vampir, der kein Blut sehen kann!«, kicherte ich. Das Kichern ging in einen Lachanfall über, ich konnte gar nicht wieder aufhören.

»Die Einsamkeit macht mich langsam verrückt!«, japste ich, als ich mich endlich wieder unter Kontrolle hatte.

Ich hielt mir die vom Lachen schmerzenden Seiten. »Ist wohl besser, ich gehe weiter. Irgendwann muss dieser Wald doch ein Ende haben.«

 

»Hast du dich verlaufen?«, fragte in diesem Moment eine Stimme hinter mir.

Mit vor Angst aufgerissenen Augen fuhr ich herum und erblickte ein Mädchen. Sie schien etwa in meinem Alter zu sein. Ihre blonden Locken hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und ihre wunderschönen, tiefblaue Augen, blickte genau in meine.

Sie lächelte freundlich. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich hab dich lachen hören und war neugierig.«

Ich starrte sie immer noch wortlos an. »Bist du wirklich da, oder bilde ich mir das ein?«, stammelte ich schließlich, denn in ihrer grünen Kleidung verschmolz sie fast mit dem Hintergrund.

Sie beachtete meine Frage nicht. »Was machst du hier? So ganz allein?«, wollte sie wissen.

»Wandern«, erklärte ich zögernd.

»Wandern? Im Regen? Ganz allein und ohne Proviant?«, fragte sie, mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen.

»Ja, was dagegen? Du bist doch auch allein hier«, gab ich trotzig zurück, drehte mich um und ging weiter.

»Hey, warte! Ich wollte dich nicht ausfragen. Es wird bald dunkel, weißt du schon, wo du die Nacht verbringen willst?«, rief sie mir nach.

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihr um. »Nein, ehrlich gesagt nicht.« Bei dem Gedanken, eine weitere Nacht allein im Wald zu verbringen, schnürte sich mir vor Angst die Kehle zu.

»Ich weiß genau, was du meinst«, sagte sie lachend, und nahm meine Hand. »Komm mit«, forderte sie mich auf.

Ich folgte ihr verwirrt. »Ich hab doch gar nichts gesagt, oder?«, fragte ich mich.

Wir verließen den Trampelpfad und gingen ein paar Meter in den Wald hinein. Vor einem hohen Baum blieben wir stehen.

»Warte, ich lass dir die Leiter hinunter«, sagte sie und begann, geschmeidig wie eine Katze, am Stamm hinaufzuklettern. Erst jetzt entdeckte ich ein Baumhaus, dass in die Baumkrone gebaut war.

Sie warf mir eine Strickleiter zu und ich kletterte langsam nach oben. Ich hatte einen kargen, winzigen Raum erwartet, doch das Gegenteil war der Fall. Alles war gemütlich und liebevoll eingerichtet, so dass ich mir gleich noch schmutziger vorkam. Ich sehnte mich nach einer Dusche.

Als hätte sie wieder meine Gedanken gelesen sagte das Mädchen: »Ein Badezimmer haben wir hier zwar nicht, aber dort drüben, hinter dem Vorhang, steht ein Eimer frisches Wasser aus dem Bach. Trockene Kleidung hab ich dir auch hingelegt. Wir haben ja ungefähr die gleiche Größe.«

Ich warf einen skeptischen Blick auf ihre zierliche Figur und dachte: »Im Leben passe ich nicht in diese Klamotten.«

Ich verschwand hinter dem Vorhang, wusch mich und zog mich um. Überrascht stellte ich fest, dass mir die Kleidung tatsächlich passte.

Als ich kurze Zeit später hinter dem Vorhang vortrat, rief das Mädchen erfreut: »Grün steht dir. Du siehst toll aus.«

Ich schnitt eine Grimasse. »Ich? Ich bin doch ein hässliches Entlein.«

»Unsinn! Du bist wunderschön! Du siehst aus wie Schneewittchen! Hier, schau selbst!« Sie nahm meine Hand und führte mich vor einen Spiegel. Ich trat näher und betrachtete mich. Lange Locken umrahmte mein blasses Gesicht und im krassen Gegensatz zu meinen fast schwarzen Haaren standen stahlblauen Augen. Es war, als würde ich mich zum ersten Mal wirklich sehen. »Schneewittchen!«, dachte ich und musste lächeln.

»Siehst du? Du bist schön«, flüsterte sie.

Wir gingen gemeinsam zum Sofa. Auf dem Tisch stand ein Teller mit frischem Obst. »Komm, setzt dich und iss. Leider hab ich nichts anderes hier«, meinte sie entschuldigend.

»Danke, das ist schon in Ordnung«, murmelte ich und machte mich hungrig darüber her.

Sie saß neben mir und schaute mir dabei zu. »Isst du nicht?«, fragte ich nach einer Weile irritiert.

»Nein, ich hab schon gegessen«, erklärte sie.

»Ach so! Sag mal, wie hießt du eigentlich?«

»Mein Name ist Sonya. Und wer bist du?«

»Ich bin Bree. Wohnst du hier?«

Sonya lachte. »Nein, natürlich nicht. Ich wohne mit meiner Familie in der Nähe von Orick. Aber wenn ich allein sein möchte, dann komme ich manchmal hier her.«

»Wie weit ist es bis Orick?«, wollte ich wissen. Ich hoffte, die Wildnis endlich hinter mir lassen zu können.

»Von hier? Ich würde schätzen ein Dreitagesmarsch ungefähr. Wo genau willst du denn hin?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Mal sehen, wo es mir gefällt«, erklärte ich ausweichend und versuchte, mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

»Wenn du magst, kannst du gern ein paar Tage hierbleiben«, schlug sie vor.

»Vielleicht mach ich das«, meinte ich gähnend.

Sie sprang auf. »Jetzt richte ich dir erstmal einen Schlafplatz her. Möchtest du in der Hängematte schlafen oder reicht dir das Sofa?«, fragte sie und deutete bei ihren Worten nach oben.

Ich folgte ihrem Blick. Unter der Decke des Raumes, an einem Ast, hing eine Hängematte.

»Das Sofa ist okay«, erwiderte ich, und fragte mich insgeheim, wie man in die Hängematte gelangen sollte, ohne sich den Hals zu brechen.

Sonya reichte mir eine Decke. »Hier, mach es dir bequem und fühl dich wie Zuhause. Ich gehe nochmal raus. Hier in der Nähe steht eine Heuraufe, dort möchte ich die Tiere beobachten. Gute Nacht, Bree. Wir sehen uns Morgen, dann erzählst du mir alles, was dich bedrückt, okay? Vielleicht kann ich dir helfen.«

 

Nachdem Sonya gegangen war, kuschelte ich mich in die weiche Decke. »Sobald es hell wird, gehe ich weiter«, nahm ich mir vor, und war kurz darauf auch schon eingeschlafen.

 

Ich schlief wie ein Stein in dieser Nacht. Als ich erwachte, war es schon fast Mittag und von Sonya keine Spur. Seit Tagen hatte ich das erste Mal wieder tief und fest durchgeschlafen.

Mit einem Blick aus dem Fenster stellte ich fest, dass es noch immer regnete. »War ja klar«, seufzte ich, und kletterte nach unten, um mich in den Büschen zu erleichtern.

Auf dem Weg zurück ins Baumhaus, traf ich auf Sonya. »Du bist ja endlich aufgewacht! Ich dachte schon, du würdest den ganzen Tag verschlafen!«, rief sie mir lachend zu.

»Ich hab in den letzten Nächten nicht viel Schlaf bekommen«, entschuldigte ich mich.

»Schon okay, ich mach doch nur Spaß. Ich hab inzwischen versucht, ein Kaninchen oder Ähnliches zu jagen. Leider konnte ich keines finden. Dann ist mir eingefallen, dass ich bei dem Regen eh kein Feuer entzünden könnte, um es zu braten, und roh willst du es ja bestimmt nicht, oder?«

»Nein! Auf keinen Fall. Ich mach mir aber auch so nicht viel aus Fleisch«, erwiderte ich und schüttelte mich bei dem Gedanken, ein rohes Kaninchen zu essen.

»Das dachte ich mir. Darum hab ich ein paar Beeren und essbare Wurzeln mitgebracht.«

Gemeinsam stiegen wir hinauf ins Baumhaus. Wieder machte ich mich allein über das Essen her. Als ich Sonya darauf ansprach, meinte sie nur, sie habe schon unterwegs gegessen.

 

Sonya wartete, bis ich meine Mahlzeit beendet hatte. Dann schaute sie mir tief in die Augen und lächelte. »Jetzt erzähl mir, wer du bist und was dich bedrückt! Ich verspreche dir, anschließend wird es dir besser gehen.«

Ich wollte nicht über mich sprechen, doch ihr Blick hielt mich gefangen und schließlich begann ich zu erzählen: »Mein Name ist Breanna Summer. Ich komme aus Camden, New Jersey. Bis zu meinem fünften Lebensjahr bin ich in einem Kinderheim aufgewachsen. Niemand weiß, wer meine Mutter ist, ich war ein Findelkind.«

»Kurz nach meinem fünften Geburtstag kam ich zu Pflegeeltern. Ihre Namen sind Peter und Molly. Zuerst waren sie total lieb zu mir. Einen Sommer lang hatte ich eine wunderschöne Kindheit. Dann wurde Molly schwanger und als ihr Sohn geboren wurde, hatten sie und Peter plötzlich keine Liebe mehr für mich übrig.«

»Von dem Moment, als Peter jun. auf der Welt war, wurde ich zum Dienstmädchen degradiert. Ich musste putzen, kochen, Unkraut jäten und das alles neben der Schule. Weigerte ich mich, wurde ich verprügelt oder im dunklen Keller eingesperrt.«

»Es wurde immer schlimmer. Vor ein paar Wochen habe ich es nicht länger ausgehalten und bin abgehauen.«

»Und was hast du jetzt vor?«, fragte Sonya, die mir bisher schweigend zugehört hatte.

»Weglaufen, bis ich das Gefühl habe, angekommen zu sein«, murmelte ich.

Sie lächelte. »Das klingt doch nach einem Plan. Wenn du möchtest, kannst du gern hierbleiben. Das sagte ich ja schon.«

 

Den Rest des Tages redeten wir nicht mehr davon. Wir verbrachten die Zeit im Baumhaus, alberten herum und unterhielten uns stundenlang über alles Mögliche.

Am späten Nachmittag hörte es endlich auf, zu regnen. »Lass uns noch ein wenig rausgehen«, schlug Sonya vor.

»Ja, gerne! Vom vielen Rumsitzen tut mir schon der Hintern weh!«

Wir liefen eine Weile schweigend durch den Wald. Plötzlich blieb Sonya stehen. Es sah fast aus, als würde sie etwas wittern. »Warte hier!«, sagte sie plötzlich und rannte los.

Einige Minuten später kam sie zurück. Sie sah wütend aus.

»Ist alles okay?«, fragte ich.

»Nein, irgend ein Idiot hat eine Wölfin erschossen. Sie liegt da hinten, wie es aussieht, ist sie schon zwei Tage tot. Wir müssen ihre Welpen finden, vielleicht können wir sie retten.«

Sie rannte so schnell los, dass ich ihr kaum folgen konnte. Als ich sie endlich einholte, kniete sie vor einer kleinen Höhle.

»Drei sind noch am Leben. Ich schätze, sie sind ungefähr zehn Wochen alt. Vielleicht kann ich sie durchbringen! Hilf mir, wir tragen sie erstmal zum Baumhaus!«

 

Die ganze Nacht und den nächsten Tag umsorgten wir die Welpen. Der Schwächste von ihnen schaffte es nicht, aber die andern waren schließlich über den Berg.

Eine Woche lebten die beiden mit uns im Baumhaus. Tagsüber streifte Sonya mit ihnen durch den Wald und lehrte ihnen das Jagen, nachts brachte sie die Wölfe jedoch immer mit zurück.

Ich freundete mich besonders mit der jungen Wölfin an. Heimlich gab ich ihr den Namen Tala. Die indianische Bezeichnung für Wolf.

 

»Heute Nacht lasse ich die kleinen Wölfe im Wald. Ich denke, sie sind stark genug, um allein klar zu kommen. Für alle Fälle werde ich sie aber weiter beobachten«, erklärte Sonya mir eines Abends.

»Du hast bestimmt recht«, murmelte ich traurig.

»Es sind Wildtiere, Bree. Sie gehören in den Wald. Sie werden überleben, ich bin mir sicher. Hier ganz in der Nähe gibt es ein großes Wolfsrudel. Ich werde sie dort in der Nähe aussetzen. Vielleicht haben wir Glück und sie werden dort aufgenommen.«

Schweren Herzens verabschiedete ich mich von Tala und ihrem Bruder. »Morgen Früh bin ich zurück, dann erzähle ich dir, ob es geklappt hat«, versprach Sonya und verschwand mit den Wölfen im Wald.

 

Ich hatte mich hier im Wald wohlgefühlt. Trotz allem spürte ich, dass meine Reise noch nicht beendet war.

Als ich mich am Abend schlafen legte, fasste ich den Entschluss, Sonya noch in dieser Nacht zu verlassen und weiterzugehen.

Diesmal setzte ich meinen Plan in die Tat um. Noch vor Morgengrauen kletterte ich aus dem Baumhaus und ging fort, ohne mich zu verabschieden.

 

 

 

Kapitel 2

 

Den ganzen Tag lief ich und gönnte mir keine Rast. Das Wetter passte sich meiner miesen Stimmung an, es begann zu regnen und hörte nicht wieder auf.

Ich vermisste Sonya und das Baumhaus. Ein paar mal war ich kurz davor, umzudrehen, und zu ihr zurückzugehen. Doch irgendetwas trieb mich immer weiter vorwärts.

 

Am frühen Abend des dritten Tages verließen mich meine Kräfte. Mit jedem Schritt wurde ich mutloser. Der starke Dauerregen war einem leichten Nieselregen gewichen und noch immer hatte ich kein Haus gesehen. »Das hier muss das Ende der Welt sein. Hier lebt keine Menschenseele«, sagte ich und erschrak, als ich meine eigene Stimme hörte. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich laut sprach.

Als ich in einiger Entfernung eine Bewegung erspähte, blieb ich wie angewurzelt stehen. Ich konzentrierte mich darauf, und glaubte, zwei Männer in irrsinnigem Tempo rennen zu sehen. So schnell, wie es eigentlich nicht möglich war. Ich schüttelte den Kopf und schaute noch einmal hin. Es war niemand da. »Jetzt ist es amtlich, du bist verrückt«, sagte ich und plötzlich kamen mir die Tränen.

Jeder Knochen schmerzte und ich war müde. Ich konnte einfach nicht weiterlaufen. Abseits des Weges entdeckte ich einen Felsvorsprung, in dem sich eine Höhle befand. »Ob es hier Bären gibt?«, fragte ich mich. »Und wenn schon, du stirbst so oder so«, dachte ich dann.

Mit letzter Kraft schleppte ich mich die Böschung hinauf zu der Höhle, dort schlüpfte ich hinein. Endlich war ich dem Regen entkommen. »Wenn ich doch nur etwas hätte, um ein Feuer zu machen«, seufzte ich.

Plötzlich hörte ich ein Schnüffeln, gefolgt von einem Rascheln. Irgendetwas kroch in die Felsspalte. Ich wollte aufschreien, als ich etwas pelziges an meinem Bein spürte, dann sprang Tala an mir hoch und leckte mein Gesicht.

»Tala! Was machst du denn hier?«, fragte ich und kraulte die junge Wölfin. Sie war ein wenig abgemagert und sah zerzaust aus, sie musste mir die ganze Zeit gefolgt sein.

Jetzt rollte sie sich neben mir zusammen, um zu schlafen. Meine Angst verflog. Ich kuschelte mich an sie und war fast augenblicklich eingeschlafen.

 

~*~

 

Weit nach Mitternacht rannten die Zwillingsbrüder James und Dorian Dupont durch den Wald nach Hause. Plötzlich erstarrte einer der beiden in seiner Bewegung: »Stopp mal, James. Hörst du das auch?«

»Ist sicher nur ein verwundetes Tier«, meinte der achselzuckend und lief weiter.

Dorian ging dem Stöhnen nach. In einer Felsspalte erblickte er ein schlafendes Mädchen und eine junge Wölfin. Er kroch in die Höhle, um nach dem Mädchen zu sehen. Die zuvor neben ihr ruhende Wölfin stellte sich ihm in den Weg und fletsche die Zähne.

Schön ruhig! Ich werde ihr nichts tun«, sagte er und schob das Tier bestimmt zur Seite. Knurrend zog der Wolf sich zurück.

Er untersuchte das schlafende Kind. Fieber wütete durch ihren Körper. Ohne darüber nachzudenken hob er sie auf und rannte zurück in die Stadt, aus der er gerade gekommen war.

 

Einige Tage später versammelte Laura die Familie um den großen Konferenztisch im Arbeitszimmer. Dorian hatte um ein Gespräch gebeten. Als Familienoberhaupt hatte sie sich am Kopf des Tisches niedergelassen, ihr Gefährte Henry an ihrer Seite.

Sie schwieg und schaute jeden Einzelnen an. Zuerst Henry, ihren treuen Begleiter. Er hatte das lange braune Haar lose im Nacken zusammengebunden. Seine wunderschönen grünen Augen erwiderten ihren Blick ruhig und er lächelte.

Er legte seine feingliedrigen Finger, die zeigten, dass er niemals schwere körperliche Arbeit hatte verrichten müssen, auf ihre und drückte ihre Hand. Zu Lebzeiten war er Musiker am Hof eines Königs gewesen.

Er spürte Lauras Traurigkeit. Ihr Zirkel war im Begriff, sich aufzulösen. »Ich werde immer bei dir sein, Liebste«, sagte er leise.

»Ich danke dir, Liebster«, erwiderte sie.

Ihr Blick wanderte weiter zu ihren Söhnen. Äußerlich glichen sie sich, wie ein Ei dem anderen und doch waren sie so verschieden. Sie hatten dunkles Haar, grüne Augen und waren von großer und muskulöser Statur.

Sie schaute zuerst James an, der aufbrausendere und temperamentvollere der Zwillinge. Er war dafür bekannt, erst zu handeln und dann zu denken. Ohne ein Lächeln erwiderte er ihren Blick. Neben ihm saß Amira, seine Gefährtin.

Bei ihrer Verwandlung war die dunkelhaarige Schönheit kaum älter als 18 Jahre gewesen. Genau wie James gehörte sie zu den Kämpfern der Vampire und lernte ihn bei einer Schlacht kennen. Später folgte sie ihm von ihrem Zirkel aus Italien in die USA.

James, Mira und auch Dorian hatten vor ein paar Tagen vom Ältestenrat den Auftrag erhalten, beim Schutz der letzten Vampirsiedlung in England zu helfen. Vampire wurde in England seit Monaten immer wieder grundlos von Jägern des Circle of Truth Guardians angegriffen. Es hatte schon viele Tote gegeben.

Sonya wollte die drei nach Europa begleiten. Sie war optisch wie charakterlich das totale Gegenteil von Amira. Ihr Haar war blond und sie hatte blaue Augen. Sie war ein Feingeist, liebte die Natur und alle darin befindlichen Lebewesen. Sie hasste es, zu töten. Oft verbrachte sie Wochen oder Monate in der Wildnis, um verletzte Tiere aufzupäppeln.

Als Letztes richtete Laura ihre Aufmerksamkeit auf Dorian, ein ruhiger, nachdenklicher Typ. Sein sonst offener Blick war heute getrübt und in sich gekehrt. Sie ahnte, dass er mit den Gedanken bei dem Kind war. Auch Sonya, seine Gefährtin, schaute ihn immer wieder besorgt an.

 

Laura riss sich aus ihren traurigen Gedanken und schaute wieder Dorian an. »Erzähl uns, worüber du mit uns sprechen möchtest«, erteilte sie ihm das Wort.

Er erhob sich. »Es ist dieses Kind, es geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Wie ist es möglich, dass sie so eine Macht über mich hat? Ich muss immer wieder zu ihr gehen, um mich zu überzeugen, dass es ihr gut geht. Sie hat mich an sich gebunden. Sie muss eine Hexe sein. Kennst du dieses Gefühl?« Er schaute Laura fragend an.

Sie lächelte kurz. »Ich kenne es sehr gut. Mir ist es auch so ergangen, damals, als ich dich und deinen Bruder fand. Der Unterschied ist, dass es für mich nur eine Möglichkeit gab, euch zu retten.«

»Was kann ich dagegen tun?«, fragte er verzweifelt.

»Nichts, Dorian. Das Gefühl wird bleiben, solange dieses Kind lebt.«

»Es muss doch etwas geben, es macht mich sonst wahnsinnig! Was wird passieren, wenn ich fortgehe? Kann ich James nach England begleiten und mich dort mit der Jagd ablenken?«, rief er aufgebracht.

Laura schaute ihm in die Augen. »Du kannst jederzeit gehen, aber das Gefühl wird bleiben«, erklärte sie. »Du wirst lernen müssen, damit zu leben.«

Dorian schüttelte den Kopf. »Nein, so kann ich mich auf gar keinen Fall auf die Schlacht konzentrieren. Es tut mir Leid, James. Ich werde dich nicht begleiten.«

»Du und deine besonnene Art werden uns fehlen, Bruder«, warf James ein.

»Unter normalen Umständen würde ich dir zustimmen, aber so wie es jetzt ist, wäre ich eine Belastung für euch.«

»Wieso das?«, wollte Mira wissen.

»Meine Gedanken kreisen nur um sie. Weißt du, sie entfernt sich gerade von hier und es kostet mich meine ganze Kraft, hierzubleiben und ihr nicht zu folgen. Ich kann spüren, dass es ihr sehr schlecht geht. Was kann ich nur tun?«, fragte er, der Verzweiflung nahe.

»Wir könnten sie zu uns holen«, schlug Laura nach einem Moment des Schweigens vor.

 

»Nein! Sie ist noch ein Kind! Wir dürfen kein Kind ..., oder doch?«, unterbrach er sich selbst.


Jay

 

»Endlich frei!«, dachte ich, warf meine Sporttasche in eine Ecke und gab der Haustür einen Stoß, so dass sie laut krachend ins Schloss fiel. 

 

»Mom! Ich bin Zuhause!«, rief ich und bereute es schon im nächsten Moment. Die Kopfschmerzen jagten wie ein Blitz durch meinen Schädel.

Meine Mutter Darlene schaute aus ihrem Büro, das Handy noch am Ohr. Sie winkte mir kurz zu, bevor sie zurück an ihren Schreibtisch ging.

 

Ich schlurfte in die Küche, nahm mir eine Cola aus dem Kühlschrank und spülte ein paar Kopfschmerztabletten hinunter. Gerade wollte ich hinauf in mein Zimmer gehen, als Mom hereinkam. Sie wirkte gehetzt und überarbeitet. 

»Hallo Jay. Möchtest du etwas essen?«, fragte sie. 

Schon bei dem Gedanken an feste Nahrung spürte ich, wie sich mein Magen langsam umdrehte. »Nein danke, ich geh lieber schlafen«, murmelte ich. 

 

An Tagen wie heute hasste ich meinen Job. Die Musik war viel zu laut und das Licht zu grell gewesen. »Und alles nur wegen Steven«, dachte ich gereizt. 

Eigentlich hätte ich heute einen meiner seltenen freien Tage haben sollen. Doch die Europatour stand kurz bevor und Steven hatte auf eine letzte Probe bestanden. Natürlich war die komplett ins Wasser gefallen. Es hatte aber nicht nur daran gelegen, dass ich direkt von einer Party kam. Auch Owen, Ricky und Jonathan waren unkonzentriert, müde und lustlos gewesen.

»Wie ist denn die Probe heute gelaufen?«, holte mich Mom aus meinen Gedanken.

»Frag besser nicht, es war eine Katastrophe.«

Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sie mir kopfschüttelnd nachschaute, als ich nach oben ging.

 

Ich warf mich komplett angezogen aufs Bett und war im nächsten Moment schon eingeschlafen. Nur eine halbe Stunde später riss das Klingeln meines Handys mich aus dem Schlaf.

»Mist, ich hab vergessen, es auszuschalten«, dachte ich, bevor ich mich meldete: »Ja? Was ist los?«

Owen, mein Bandkollege und bester Freund, war dran. »Ich wollte hören, ob alles in Ordnung ist. Du bist vorhin einfach verschwunden. Was war denn los?«, fragte er besorgt. 

»Was schon? Steven war los! Der hat wieder die ganze Zeit an mir rumgemäkelt, als ob er etwas zu Sagen hätte! Muss ich noch mehr erklären?!« Wenn ich nur an ihn dachte, war ich sofort wieder auf hundertachtzig.

»Aber sonst bist du okay?«, hörte ich Owen in meine Gedanken hinein fragen.

»Ja, ich bin nur verkatert, hab gestern bei einer Party über die Stränge geschlagen. Nichts, was nicht mit etwas Schlaf wieder ausgebügelt werden kann.«

»Dann ist ja gut. Ich wollte dich übrigens noch einmal daran erinnern, dass wir morgen Vormittag einen Termin bei Mel haben. Soll ich dich abholen oder kommst du dort hin?«

Mel war Hairstylistin und kümmerte sich schon seit Gründung der Band darum, dass wir immer nach der neusten Mode gestylt waren.

»Gut das du das sagst, ich hätte es vergessen. Wie viel Uhr soll ich dort sein?«, fragte ich.

»Der Termin ist um zehn! Danach können wir ja noch einen Kaffee zusammen trinken«, schlug Owen vor.

»Gerne! Ich werde da sein. Hör mal, Bro, ich brauche jetzt dringend etwas Schlaf, okay? Wir sehen uns morgen!«, verabschiedete ich mich und legte auf. Diesmal schaltete ich das Handy aus. 

 

Ich war zum Umfallen müde, und doch drehte ich mich erfolglos von einer Seite auf die andere. Ich konnte nicht wieder einschlafen. Schließlich gab ich es auf und ging ins Bad.

 

Ich betrachtete mich im Spiegel. »Mann! Siehst du scheiße aus!«, sagte ich zu meinem Abbild. Die durchzechte Nacht sah man mir definitiv an. Ich war außergewöhnlich blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. 

»Mit einem hat Steven recht, ich muss dringend zum Friseur«, stellte ich grinsend fest. Mein schwarzes, sonst immer akkurat gestyltes Haar, stand wirr in alle Richtungen und mein Gesicht hatte auch schon ein paar Tage keinen Rasierer mehr gesehen. Ich persönlich mochte die Bartstoppeln, so sah ich wenigstens meinem Alter entsprechend aus. Doch der Manager der Band, bestand darauf, dass wir immer glattrasiert waren, um jünger zu wirken.

Mein Blick wanderte weiter über meinen Körper. Ich war schlank und durch das jahrelange, harte Tanztraining sehr muskulös. Besonders stolz war ich auf das gut sichtbare Sixpack. Tattoos zierten meinen Oberkörper und die Arme. Auf jeder Tour kam ein weiteres Tattoo dazu. Auch für die kommende Tour hatte ich mir bereits einen Termin in einem Studio in London besorgt. Diesmal würde ich mir einen Phönix auf den Rücken stechen lassen. Das Motiv dazu hatte ich selbst entworfen. 

 

Nach einer ausgiebigen Dusche ging es mir besser. Die Kopfschmerzen hatten endlich nachgelassen. Ich ging zurück in mein Zimmer, zog mich an und beschloss dann, meine E-Mails zu checken. 

Ungeduldig überflog ich die Absender. »Nur unwichtiges Zeug«, grummelte ich dabei, und wollte schon alles ungelesen löschen, als ich eine Mail von Sunny entdeckte. Ein unwillkürliches Lächeln flog mir übers Gesicht, als ich die Mail las: 

Hey Mr. X

Wo steckst Du denn? Hab seit Tagen nichts mehr von Dir gehört. Ich vermisse Dich!!!!

Hm, eigentlich müsste ich total sauer auf Dich sein! Wie hast Du es nur geschafft, innerhalb so kurzer Zeit eine so wichtige Rolle in meinem Leben zu übernehmen? 

 

Ich möchte sooooo gern wissen, wer du bist. Kannst du mir nicht wenigstens Deinen Namen verraten? Vielleicht, wenn ich Dir noch mehr von mir erzähle? Ich versuch es mal. (Hoffe nur, Du entpuppst Dich nicht als vierzigjährige Hausfrau aus Michigan!)

 

Ich musste laut lachen. »Meine Sorge war immer, du könntest ein Kerl sein«, dachte ich und vertiefte mich wieder in die Mail.

 

Wie Du ja schon weißt, ist mein Name Sunny Marie Walker. Ich wurde vor 22 Jahren in Portland (Oregon) geboren. Meine Mutter war gerade 16 Jahre alt, als sie von einem Austauschschüler aus Deutschland geschwängert wurde. Als sie die Schwangerschaft bemerkte, war er längst zurück in seiner Heimat und hatte keine Adresse hinterlassen.

Die Eltern meiner Mutter lernte ich nie persönlich kennen, ich weiß nur, was meine Mutter mir über sie erzählte: Er, ein Priester in einer Kleinstadt in Montana und sie, Hausfrau, haben meine Mutter rausgeschmissen, als sie von der Schwangerschaft erfuhren. (In der heutigen Zeit, das musst Du Dir mal vorstellen!!!)

In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an ihre Patentante Marie in Portland. Dort wurde sie mit offenen Armen aufgenommen, denn ihre Tante war verwitwet, hatte keine Kinder und lebte allein in einem großen Haus.

Bis kurz vor meinem sechsten Geburtstag wohnten wir zu dritt dort. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Meine Mutter kam bei einem Autounfall ums Leben. Kurz vorher wurde bei Tante Marie Krebs diagnostiziert. Aus diesem Grund fühlte sie sich nicht in der Lage, sich um mich zu kümmern. Sie nahm Kontakt zu meinem Vater auf, den sie mit Hilfe eines Privatdetektives gefunden hatte. Nach einigem Hin und Her holte er mich nach Deutschland.

Er konnte jedoch keinen Zugang zu mir finden und war schnell überfordert mit mir. Weil er nicht wollte, dass ich in einem Heim aufwuchs, brachte er mich zu seiner Mutter Lisa. Sie war geschieden, arbeitete als Lehrerin für Englisch und Deutsch an einem Gymnasium und lebte allein in Hannover. Mein Vater übertrug ihr das Sorgerecht und verschwand wieder aus meinem Leben.

Lisa ließ sich für ein Jahr beurlauben, als ich bei ihr einzog. Innerhalb dieses Jahres schaffte sie es, mit unendlich viel Geduld und Liebe, aus mir ein glückliches Kind zu machen.

Kurz vor meinem vierzehnten Geburtstag heiratete Lisa noch einmal. Ihr Mann Paul hatte eine zwölfjährige Tochter, die oft die Wochenenden bei uns verbrachte. Wir zogen aus der Innenstadt, in ein hübsches Haus in der Vorstadt. Zwei Jahre später zog Pauls Tochter Luise bei uns ein. Bis heute ist sie meine beste Freundin.

Heute lebe und arbeite ich in einer Kleinstadt in der Nähe von Dortmund. In meiner Freizeit tanze ich gern, treffe mich mit meinen Freunden und natürlich liebe ich Shoppingtouren. (Mädchenkram halt! *grins*)

 

So, das bin ich - und wer bist Du? Kann es kaum erwarten, alles über Dich zu erfahren. Meld Dich bald, Du fehlst mir so!

 

Hugs and Kisses

 Sunny

 

PS: Ich könnte mich vielleicht dazu überreden lassen, ein Foto von mir zu posten, wenn Du mir etwas von Dir verrätst (dies ist natürlich KEIN Erpressungsversuch!) 

 

Nachdem ich die Mail gelesen hatte, loggte ich mich bei Facebook ein, Sunny war jedoch nicht online. Kurzentschlossen schnappte ich mir mein Handy und wählte die Telefonnummer, die auch in ihrer Mail gestanden hatte. Am anderen Ende klingelte es, einmal, zweimal ... fünfmal, niemand meldete sich. Enttäuscht warf ich das Telefon aufs Bett. Ich hätte so gern ihre Stimme gehört.

Unruhig wanderte ich im Zimmer auf und ab. Dreißig Minuten hielt ich die Ungeduld im Zaum, bevor ich ihre Nummer erneut wählte. Diesmal meldete sich jemand.

»Hallo?«, fragte eine zuckersüße Stimme.

»Hi! Ich würde gern mit Sunny sprechen. Ist sie da?«, meldete ich mich. Doch es kam keine Antwort. Ich dachte schon, die Leitung sei tot. »Hallo? Sunny? Bist du dran?«

»Ja, wer spricht denn dort?«, kam es zögerlich zurück.

»Ich bin's, Jay.« Plötzlich fiel mir ein, dass sie meinen Namen gar nicht kannte. »Ich bin Mister X«, fügte ich schnell hinzu.

Sie holte tief Luft, bevor sie antwortete: »Dein Name ist also Jay! Das ist ja schon mal ein Anfang. Und weiter?«

Ich lächelte, als ich sagte: »Ich hab gerade deine Mail gelesen und wollte dann spontan deine Stimme hören. Ich war neugierig«. 

»Und? Konnte ich deine Neugier befriedigen?«

»Durchaus! Ich muss sagen, du hast eine sehr schöne Stimme«, sagte ich grinsend.

»Vielen Dank. Deine ist auch nicht schlecht.«

Jetzt konnte ich ein Lachen nicht unterdrücken. »Das hat ja noch nie jemand zu mir gesagt«, kicherte ich. 

»Komm schon, Jay. Ich möchte dich kennenlernen. Erzähl mir endlich etwas von dir«, bettelte sie, ohne auf meinen Einwand zu achten.

Einer spontanen Eingebung folgend erwiderte ich: »Ich hab eine viel bessere Idee! Wie wäre es, wenn wir uns persönlich treffen?«

»Ja klar! Und wie stellst du dir das vor? Soll ich mal eben rüber in die Staaten jetten, oder was?«

»Hm - das wäre toll. Du könntest bei mir wohnen. Aber eigentlich wollte ich vorschlagen, dass wir uns in Deutschland treffen. Ich bin in ein paar Tagen beruflich in Dortmund und du hast geschrieben, dass du dort in der Nähe wohnst. Was meinst du, wollen wir uns auf einen Drink treffen?«

 

Ursprünglich hatte ich nur einmal ihre Stimme hören wollen, doch jetzt fühlte ich mich irgendwie zu ihr hingezogen und wollte sie unbedingt sehen.

 

Sie schwieg einen Moment. »Ich weiß nicht, Jay. Ich meine - versteh mich jetzt bitte nicht falsch, aber, ich kann mich doch nicht mit einem wildfremden Kerl treffen. Außerdem trinke ich keinen Alkohol«, stammelte sie dann.

 

Einerseits war ich froh, dass sie zögerte. Aus Erfahrung wusste ich, dass Mädchen ihre unbefangene Art mir gegenüber verloren, sobald sie wussten, wer ich war. So ging es mir immer, wenn ich Frauen kennenlernte. Andererseits wollte ich sie unbedingt treffen. 

 

»Komm schon, Sunny! Ich werd dich schon nicht beißen. Ich  erzähle dir auch alles von mir.« »Wenn es dann überhaupt noch nötig ist«, fügte ich in Gedanken hinzu.

»Ich weiß nicht ...«, sie zögerte weiterhin.

Jetzt wurde ich ärgerlich und hörte nicht, was sie noch sagte. Ich war es nicht gewöhnt, von Mädchen abgewiesen zu werden. »Dann eben nicht!«, brummte ich wütend und legte ohne ein weiteres Wort auf.

 

Bereits im nächsten Moment bereute ich meine übertriebene Reaktion. Bevor ich jedoch zum Hörer greifen und zurückrufen konnte, wurde die Tür aufgerissen. Kelly stürmte herein. 

»Hast du mich vergessen? Ich versuche seit einer Stunde, dich anzurufen!«, schimpfte sie.

»Ich hatte mein Handy ausgeschaltet, weil ...«

»Ja ja! Jetzt lass uns endlich gehen«, unterbrach sie mich ungeduldig, und zog mich hinter sich her zur Tür hinaus.

Sunny

 

Ich stand im Wohnzimmer und starrte auf den Telefonhörer in meiner Hand. Er hatte einfach aufgelegt. Tränen der Enttäuschung schossen mir in die Augen. »Jetzt hab ich es verbockt«, dachte ich. Auf mich selbst wütend knallte ich den Hörer auf die Gabel. 

 

Schon nach den ersten Worten hatte ich mich zu ihm hingezogen gefühlt. Wahrscheinlich auch deshalb, weil er in meiner Muttersprache gesprochen hatte. Denn, obwohl ich nach all den Jahren in Deutschland die Sprache akzentfrei beherrschte, hatte Lisa stets dafür gesorgt, dass ich nie vergaß, wo meine Wurzeln lagen. 

 

»Was mach ich denn jetzt?«, fragte ich mich. 

Plötzlich fiel mir ein, dass er mir vor einigen Wochen seine Telefonnummer gegeben hatte. Verzweifelt suchte ich danach, konnte sie in meinem Chaos jedoch nirgends entdecken.

»Verdammter Mist!«, fluchte ich laut, dann schaltete ich meinen Computer ein, und schrieb ihm eine kurze Mail.

Jay 

 

Ich hatte den Abend und die Nacht bei meiner Freundin Kelly verbracht. Von dort aus fuhr ich zum Treffen mit Owen. 

 

»Gehen wir drüben bei Joes noch einen Kaffee trinken?«, fragte der, als wir den Friseursalon verließen. 

»Okay, ich hab heute nichts mehr vor«, meinte ich und stiefelte missmutig neben ihm her. 

 

»Alles okay? Du bist heute so einsilbig«, stellte Owen fest, nachdem wir mit unseren Getränken an einem Tisch auf der Terrasse platzgenommen hatten.

»Ja, alles okay. Hatte nur wieder Krach mit Kelly«, brummte ich.

Owen schnaubte verächtlich, er hatte meine Freundin noch nie gemocht. »Was hat sie diesmal?«, fragte er.

»Was schon? Sie will, dass ich sie mitnehme!«

»Das tust du hoffentlich nicht!«, rief Owen und machte so ein entsetztes Gesicht, dass ich gegen meinen Willen lachen musste.

»Natürlich nicht! Du kennst doch Kens Gesetze!«, erwiderte ich.

»Ganz ehrlich? Ich verstehe nicht, warum du überhaupt mit ihr zusammen bist«, meinte Owen.

»Weil sie eine Granate im Bett ist«, antwortete ich.

Mit einem Grinsen dachte ich an die vergangene Nacht. Kelly konnte eine Furie sein und war anstrengend, wenn sie ihren Willen nicht bekam, aber im Bett wusste sie genau, was sie tat.

Owen verdrehte die Augen. »Das ist doch hoffentlich nicht alles, was dich mit ihr verbindet«, sagte er in meine Gedanken hinein.

 

~*~

 

Als ich am Nachmittag Zuhause ankam, entdeckte ich eine Mail von Sunny.

Hi Jay! (Falls das wirklich dein Name ist)

Bitte sei nicht böse auf mich. Mein Zögern hatte nichts mit Dir persönlich zu tun, das musst Du mir glauben. Ich habe in meinem Leben nur leider nicht nur gute Erfahrungen mit Männern gemacht. 

Und trotzdem, meine Neugier ist so groß, ich möchte Dich unbedingt treffen. Obwohl wir erst seit ein paar Wochen chatten, kann ich mir ein Leben ohne Dich nicht mehr vorstellen. Ich sagte ja bereits, dass ich Dich sehr gern mag. Lass uns noch einmal telefonieren, okay?

Ich könnte vielleicht mit dem Zug nach Dortmund kommen, holst Du mich dann vom Bahnhof ab? Bitte ruf an! Ich vermisse Dich jetzt schon!

Hugs and Kisses

Sunny

 

Ich lachte. Mein Zorn war längst verraucht. »Sie ist echt süß«, murmelte ich, schnappte mir mein Handy und wählte ihre Nummer.

Sunny

 

Schon auf der Treppe hörte ich das Telefon klingeln. So schnell ich konnte, rannte ich nach oben, riss die Wohnungstür auf und griff nach dem Hörer. 

»Ja?«, meldete ich mich atemlos.

Es war zu spät. Wer auch immer versucht hatte, mich zu erreichen, hatte aufgegeben. Enttäuscht legte ich auf. »Das war bestimmt nur wieder eine Telefonumfrage«, redete ich mir ein.

Ich zog meine Jacke aus und warf sie achtlos zu diversen anderen Kleidungsstücken auf das Sofa. »Ich sollte mal wieder aufräumen«, dachte ich, verwarf diesen Gedanken aber im nächsten Moment und ging in die Küche, um zu Abend zu essen.

 

Später startete ich meinen Computer. Zuerst checkte ich die E-Mails. Von Jay war keine Nachricht gekommen und auch bei Facebook war er nicht online. Dafür hatte ich eine Nachricht von meiner Freundin Luise. 

Hey Sunny!

Wie geht es dir? Hab lange nichts mehr gehört! Ich habe versucht, dich telefonisch zu erreichen. Dein Handy hattest du aber wie immer nicht dabei und Zuhause ging niemand ran. Wann kommst du mal wieder nach Hannover? Wir haben schon ewig nichts mehr gemeinsam unternommen. Ich habe übrigens Karten für das The Incorrigible 5 Konzert. Hast du Lust, mich zu begleiten? Ich würde mich freuen.

Melde Dich!!!!!

LG, Lu!

 

»Wer waren denn gleich nochmal The Incorrigible 5?«, fragte ich mich und gab das Stichwort bei Google ein.

»The Incorrigible 5 (TI5) sind eine US-amerikanische Boygroup. Sie wurde am 22. Juli 2013 in Orlando (Florida) von Ken Hudson gegründet und ist mit weltweit mehr als 100 Millionen verkaufter Tonträger eine der erfolgreichsten Boygroups.

Die Mitglieder sind: Jonathan Parker, JC McCauley, Owen Franklin, Ricardo Damian Decker und Steven Peterson. Ihre bekanntesten Hits sind ...«, las ich, als das Telefon wieder zu klingeln begann.

»Ja?«, meldete ich mich abwesend.

»Hey Sunny! Ich hab deine Mail gelesen, du wolltest mich sprechen?« 

Wieder zog seine Stimme mich sofort in ihren Bann. »Jay! Toll das du dich meldest. Es tut mir wirklich leid, dass ich gestern so zickig war, aber ...«, sprudelte ich los.

Sein leises Lachen unterbrach meinen Redeschwall. »Schon gut Sunny. Dir kann man doch gar nicht böse sein«, erwiderte er.

»Na wenn du wüsstest. Mein Ex behauptete immer, ich sei eine Hexe!«

»Wirklich? Damit habe ich auch schon einen Spitznamen für dich, little Witch!«, lachte er. 

»Oh nein«, stöhnte ich. »Warum kann ich nicht ein Mal meine Klappe halten?«.

»Oh doch«, kicherte er.

»Na ja, ist ja auch egal. Dein Lachen mag ich übrigens am liebsten«, wechselte ich schnell das Thema.

»Mein Lachen?«, wunderte sich Jay, jetzt ehrlich erstaunt.

»Ja! Ich liebe dein Lachen! Erzähl schon, wann bist du in Dortmund?«

 

~*~

 

Nachdem ich das Gespräch mit Jay beendet hatte, holte ich mir etwas zu trinken aus der Küche. Dann wählte ich Luises Telefonnummer. Nach dem dritten Klingeln meldete sie sich.

»Hi Lu! Hab deine Nachricht gelesen. Wie geht es dir?«

»Sunny! Schön von dir zu hören! Bei mir ist alles gut und bei dir?«

»Kann nicht klagen. Ich würde übrigens gern mit dir auf das Konzert gehen, kannst du mir das Datum nennen? Wir haben uns ja echt schon seit Monaten nicht mehr gesehen.«

»Ich sende dir die Infos nachher per Mail. Jetzt erzähl, gibt es eine neue Liebe in deinem Leben?«

»Nein, von Männern hab ich erstmal die Nase voll«, erwiderte ich.

»Die Geschichte mit deinem Ex ist jetzt fast ein Jahr her. Es wird Zeit, dass du wieder in den Sattel steigst, Sunny.«

»Ich behaupte ja nicht, dass mir das Reiten nicht fehlt, aber wenn ich wieder in den Sattel steige, dann sollte es ein richtiger Hengst sein«, grinste ich.

Luise lachte. »Du spielst auf das letzte Date an, nehme ich an? War es so schlimm? Erzähl mal«, kicherte sie.

»Schlimm ist gar kein Ausdruck. Ich meine, du kennst Mark. Er sieht gut aus, ist ein netter Kerl und so. Um ehrlich zu sein, es hatte mich gewundert, dass so einer keine Frau hat. Nun ja, er hat mich zum Essen ausgeführt. Es war ein netter Abend, wir haben uns sehr gut unterhalten.«

»Das weiß ich schon. Was ist dann passiert?«

»Anschließend lud er mich noch auf einen Kaffee in seine Wohnung ein. Natürlich ging ich mit. Innerlich hatte ich mich schon auf ein wenig Rumknutschen eingerichtet und was ist? Wir sitzen auf dem Sofa und schauten uns einen Actionfilm mit Hamstern an - mit Hamstern! Wie alt bin ich? Zwölf?!«

Luise prustete los. »Ich glaube, es sind Meerschweinchen, keine Hamster!«, kicherte sie.

»Darum geht es doch hier nicht!«, schimpfte ich. »Es geht darum, dass gar nichts gelaufen ist. Nicht mal Händchen halten! Ich meine, was stimmt nicht mit mir? Übrigens, danke, dass du sofort auf die Notfall-Whatsapp reagiert und mich da raus geholt hast. Dein Anruf kam echt im richtigen Moment.«

»Keine Ursache, dafür sind beste Freundinnen doch da! Vergiss ihn, Sunny. Er hat dich gar nicht verdient. Such dir ein neues Opfer. Da fällt mir ein, was ist eigentlich aus deinem mysteriösen Mister X geworden? Wäre der nicht was für dich?«

»Ach, ich weiß nicht«, murmelte ich.

Luise ließ nicht locker. »Sunny! Ich kenne dich. Ich hör schon an deiner Stimme, dass da etwas ist. Also? Was ist los? Erzähl schon.«

»Sagtest du nicht, du musst noch lernen?«, versuchte ich abzulenken.

»Nein! Ich hab die ganze Nacht Zeit, wenn es sein muss«, erwiderte Lu lachend.

»Also schön, du hast gewonnen. Ja, vielleicht ist er was für mich. Nächste Woche wollen wir uns treffen. Er hat dann beruflich in Dortmund zu tun«, berichtete ich schließlich zögernd.

»Klingt doch toll. Und? Wie heißt er? Wo kommt er her? Was macht er beruflich? Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!«

Ich schluckte. Mir wurde wieder bewusst, dass ich eigentlich gar nichts von Jay wusste. 

»Ich weiß, dass er Amerikaner ist und in der Nähe von Orlando wohnt. Wobei ich berücksichtigen muss, dass Amerikaner ein anderes Empfinden für »in der Nähe von« haben, als Europäer. In Amerika ist »in der Nähe von« auch schon mal einige hundert Kilometer weit weg ...«

»Ja, aber das ist doch nichts Neues! Das wussten wir schon!«, unterbrach Luise mich ungeduldig. 

»Dann weiß ich noch, dass er sehr gerne Musik mag und sein Job irgendwas mit Security zu tun hat. Ich vermute, er ist Bodyguard, oder so was in der Art. Ach ja, und sein Name ist Jay«, fuhr ich unbeirrt fort. 

»Das ist alles? Mehr weißt du nicht? Vergiss den Typen, bestimmt auch nur wieder ein Spinner. Jay! Ist das überhaupt ein richtiger Name?«, schnaubte sie.

»Ich denke gar nicht daran, ihn zu vergessen. Er ist sehr nett. Ich mag ihn. Wenn du nur seine Stimme gehört hättest, einfach atemberaubend ...«

»Jetzt hör aber auf, Sunny! Du willst dich doch nicht ernsthaft mit einem Typen treffen, nur weil er eine schöne Stimme hat? Bist du noch nicht oft genug auf die Nase gefallen? Werd erwachsen! Ich meine, er könnte ja auch ein Vergewaltiger oder Massenmörder sein, oder noch was Schlimmeres!«

»Unsinn Lu! Du schaust zu viele schlechte Filme! Außerdem sagtest du doch, dass es Zeit wird, dass ich wieder in den Sattel steige«, verteidigte ich mich.

»Richtig, das habe ich gesagt. Aber nicht um jeden Preis, Schatz. Ich kenne dein Talent, dich viel zu schnell in die falschen Männer zu verlieben. Ich weiß nicht, wie du es immer so zielsicher schaffst, an Arschlöcher zu geraten.«

»Ich möchte ihn doch nur treffen, nicht mehr und nicht weniger. Außerdem, irgend ein Talent hat schließlich jeder.«

»Weißt du was? Mach was du willst. Heul mir aber hinterher nicht die Ohren voll, wenn es wieder schief geht«, grummelte sie.

»Ach komm schon Lu! Nicht böse sein«, flehte ich.

»Ich bin doch nicht böse. Ich mach mir nur Sorgen um dich. Nimm bitte unbedingt dein Handy mit zu dem Date und melde dich zwischendurch, okay?«

»Das werde ich, versprochen.«